Bergell, Schweiz

Piz Badile, 3008 m

Nordostwand Via Cassin.

Die Via Cassin ist eine der berühmtesten Touren im Alpenraum und zählt zu den sechs großen Nordwandrouten der Alpen. Sie ist auch heute noch eine lange und ernsthafte Tour mit alpinem Charakter und einmaliger Schönheit, deren Erzählung um ihre Erstbegehung Teil der Geschichte des Alpinismus ist.

Am 14. Juli 1937 stieg Riccardo Cassin bei guten Wetterverhältnissen mit seinen beiden Partnern Vittorio Ratti und Gino Esposito in die Wand ein. Nach einem ersten Biwak schlossen sie sich mit Mario Molteni und Giuseppe Valsecchi zusammen, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in der Wand kletterten. Am zweiten Tag überwanden sie die technisch schwierigsten Stellen im Mittelteil der Wand und biwakierten am Fuß der Kaminreihe, wo sie bei einem heftigen Gewitter völlig durchnässt wurden – Sturzbäche ergossen sich über den Granit, der Hagel blieb auf den Bändern liegen. Am Nachmittag des 16. Juli erreichten die fünf endlich den Gipfel. Doch im Abstieg starben Mario Molteni und Giuseppe Valsecchi auf der Südseite des Berges an Erschöpfung. Nicht nur wegen dieses tragischen Ereignisses wurde die Erstbegehung berühmt, sondern auch wegen der zu kletternden Schwierigkeiten, die damals an der Grenze des Möglichen lagen.

Es ist der hervorragend feste und strukturierte Granit, der diese Wand von anderen Nordwänden unterscheidet. Besonders imponierend sind die kompakten, trichterförmig angeordneten Plattenfluchten der über 700 Höhenmeter abfallenden Nordostwand. Es ist ein berauschendes Gefühl, durch diese große, von unten so unnahbar und glatt aussehende Wand zu klettern, die sich vor Ort in Bänder, Risse und Strukturen auflöst. Trotz der hin und wieder auftauchenden Normalhaken braucht es einiges an Know-how, um die richtigen Klemmgeräte rasch an geeigneter Stelle zu platzieren. Die Tour ist lang und erfordert zügiges Vorwärtskommen, bietet dafür aber auch großartige Kletterei. Alpine Erfahrung und eine gute Intuition bei der Routenfindung sind unbedingt von Vorteil, um den besten Weg durch die Wand zu finden.

Ein zeitlich knapp bemessenes Abenteuer: die Überschreitung des Piz Badile

Die Saison ist kurz für eine so lange Tour am Piz Badile. Gut machbar ist sie erst, wenn Mitte Juli der Schnee am Einstieg ausreichend weggeschmolzen ist. Im September lässt der erste Kaltlufteinbruch die Wand schon wieder im winterlichen Weiß verschwinden. Außerdem ist der Gipfel mit über 3300 Metern hoch genug, sodass jedes Gewitter Schnee bringen kann. Danach dauert es einige Tage, bis der Granit wieder trocken ist. Wenn der Sommer dann noch so wechselhaft ist wie in diesem Jahr, bleiben für eine Begehung der Nordostwand nur wenige Gelegenheiten übrig.

Am Freitag morgen um 7:00 Uhr geht es los. Nach 8 Stunden Fahrt erreichen wir auf schweizer Seite über den Maloja-Pass das verträumte Örtchen Bondo (823 m) und den Parkplatz von Laret – unserem Ausgangspunkt für den anderthalbstündigen Aufstieg zur Campana Sasc Furä (1904 m).

Samstag morgen um 4:00 Uhr klingelt der Wecker, das Abenteuer beginnt. Um 5:00 Uhr machen wir uns auf den zweistündigen Zustieg und stehen um 7:00 Uhr am Einstieg des bekannten Rébuffat Risses – der ersten Seillänge der Cassin-Route. Wir sind an diesem Tag ganz alleine in der Wand, was bei dem angekündigten Durchzug einer Kaltfront auch kein Wunder ist. Beim Anblick der Wand fragen wir uns ernsthaft, ob wir heute wirklich in diese Wand einsteigen wollen: wir sehen etliche Wasserstreifen, die aber flächig vereist sind. Die Bedingungen scheinen heute schwerer zu sein wie erwartet. Wir entschließen uns für einen Versuch, behalten uns aber die Option eines Rückzuges vor.

Der Tag nimmt seinen Lauf. Seillänge um Seillänge arbeiten wir uns durch die Wand – vorbei an den beiden Biwakplätzen, wo Cassin zusammen mit seinen Seilpartnern 1937 die Nächte kauernd verbrachte. Nach 15 Stunden Kletterei über gut strukturierten Granit, über teilweise vereiste Reibungsplatten und durch die gefrorene Ausstiegskamine, erreichen wir schließlich um 22:00 Uhr den Gipfel des Piz Badile und damit auch das etwas unterhalb des Gipfels liegende Bivacco Alfredo Redaelli. Wir sind froh, endlich der Kälte der Nacht zu entkommen.

Am Sonntag morgen um 7:00 Uhr machen wir uns vom Gipfelbiwak auf den Abstieg. Nach 4 Stunden Abklettern und Abseilen erreichen wir das Rifugio Gianetti (2534 m). Von dort geht es weiter Richtung Süden nach Bagni Masino ins Val Masino – ein sehr anstrengender Abstieg. Eine Gruppe netter italienischer Bergsteiger nimmt uns in ihrem Auto mit über Morbegno und Chiavenna zurück zu unserem Ausgangspunkt nach Bondo, den wir gegen 16:00 Uhr erreichen. Von dort sind es jetzt nochmal 8 Stunden bis nach Hause. Punkt 24:00 Uhr schließe ich dort die Wohnungstür auf. Das Wochenende ist vorbei und wir sind um ein Abenteuer reicher.

Eckdaten

Erstmal die Lage checken:

Begehung:

5. September 2009, zusammen mit Bärbel Wullenweber

Erstbegehung:

14. – 16. Juli 1937 durch Riccardo Cassin, Gino Esposito, Vittorio Ratti, Mario Molteni und Giuseppe Valsecchi

Ausgangsort:

Vom Maloja-Pass nach Bondo und weiter ins Val Bondasca nach Laret. Von hier 1,5 h Aufstieg zur Campana Sasc Furä.

Bester Zeitpunkt:

Ende Juli bis Anfang September, jedoch nicht an Wochenenden. Das Bergell ist für seine Gewitter am Nachmittag bekannt – Schnelligkeit bedeutet auch hier mehr Sicherheit!

Schwierigkeit:

Französisch 6a

Länge:

22 Seillängen Nordostwand + 5 Seillängen Nordkante bis auf den Gipfel, 1200 m

Absicherung:

Die Stände sind größtenteils mit Expansionsbohrhaken eingerichtet, Zwischensicherungen müssen selbst gelegt werden (einige Normalhaken sind vorhanden). Die Absicherbarkeit mit mobilen Klemmgeräten ist gut, wenn auch zum Teil mit weiten Abständen.

Ausrüstung:

60 m Doppelseil, 1 Satz Klemmkeile, C4-Camalots 0.1–3, 2 lange Expressen

Hinweis:

Über die Via Cassin gibt es zahlreiche Beschreibungen und Führer. Die meiner Meinung nach genaueste Topo bietet „Schweiz plaisir sud“ von Jürg von Känel, die genauere Details bietet als beispielsweise „TopoGuide“, „keepWild“ oder „Nichts als Granit“. Der Abstieg über die Südseite sollte nicht unterschätzt werden, denn die meisten Unfälle bei dieser Tour passieren im Abstieg durch Steinschlag.

Buchtipp:

» „Badile – Kathedrale aus Granit“ von Marco Volken

» Große Nordwände der Alpen bei Wikipedia (www.wikipedia.org …)

» Topo: Edition Filidor (www.filidor.ch)

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