Tessin, Schweiz

Pizzo Forcella, 2845 m

Zentralpfeiler der Südwand.

Die Begehung einer Route ist immer auch eine Frage des Stils. Und natürlich gibt es hier – ganz wie im wahren Leben – große Unterschiede. Wir haben einen schönen Berg in einer einsamen Gegend gesucht und sind auf den Pizzo Forcella gestoßen.

Dessen Südwand beeindruckt durch seine Platten, die von etlichen klassischen Routen durchzogen werden. Wir haben uns für die „Via del pilastro centrale“ – den Zentralpfeiler – mit seiner logischen Routenführung entschieden. Auf den ersten Blick scheint der Berg kompakt, tatsächlich setzt er sich aber aus zahllosen aneinander gelehnten Pfeilern zusammen, zwischen denen sich Bänder und Rinnen verstecken. Das besondere an der Route: sie ist clean, das bedeutet, jede Seillänge ist selbstständig mit mobilen Sicherungsgeräten abzusichern.

Alpine Kletterrouten dieser Art erfordern eine solide Tourenplanung: der Zugang bis zum Einstieg, die Route selbst, der Abstieg, aber auch ein eventueller Rückzug wollen durchdacht sein und sind ausschlaggebend dafür, ob man sich der Aufgabe gewachsen fühlt oder nicht. Nachdem nun unser Ziel gesteckt und ein passender Zeitraum gefunden ist, an dem auch das Wetter für eine solche Unternehmung mitspielt, fahren wir Richtung Val Bedretto. Wir übernachten etwas unterhalb der Passhöhe des Nufenenpasses auf einer schönen Wiese.

Nach einem ausgedehnten Frühstück geht es am kommenden Morgen los. Der Zustieg führt uns vorbei an einer kleinen Almhütte. Danach geht es entlang eines Flusses bergauf durch das wunderschön gelegene Valle della Prosa bis zum Wandfuß. Da wir den Pizzo Forcella schon im Zustieg vor Augen haben, bleibt neben der Suche nach dem optimalen Weg genug Zeit, um uns mit dem möglichen Routenverlauf auseinanderzusetzen und uns markante Orientierungspunkte in der Route zu merken.

Am Einstieg angekommen, beobachten wir aus der Ferne eine Herde Kühe, die gemächlich auf ihrem Weg zu den saftigen Wiesen unterwegs ist. Nachdem nun die gesamte Ausrüstung wohl geordnet an unseren Klettergurten hängt, kontrollieren wir alles ein letztes Mal: Haben wir alle Sicherungsgeräte, genügend Proviant und Kleidung? Stimmt das Wetter noch? Wie sieht es mit der Tagesform aus – fühlen wir uns beide körperlich und mental fit für diese Route? Alles in Ordnung – der perfekte Klettertag kann beginnen.

Den Routenverlauf im Kopf, folge ich einer strukturierten Platte entlang einer Verschneidung. Der Granit fühlt sich wunderbar griffig und rau an. Am Ende der Verschneidung mache ich Stand und hole Bärbel nach. Wir sind ganz alleine an einem so wunderschönen Berg. Ein besonderes Erlebnis und genau das, wonach wir gesucht haben. Der Abenteuercharakter steigt noch einmal sprunghaft an. Während Bärbel nachsteigt, schaue ich mich schon mal um und sondiere verschiedene Möglichkeiten für unsere nächste Seillänge. Nach einer kurzen Absprache entscheiden wir uns dann für den logischsten Weiterweg. Schnell folgt die Materialübergabe und weiter geht’s. Da wir überschlagend klettern, kommen wir zügig voran und jeder hat ausreichend Zeit, die wunderschöne Landschaft zu genießen und sich vom letzten Vorstieg zu erholen. Die nächsten Seillängen führen abwechselnd durch Rinnen und Verschneidungen oder über sehr griffige und gut zu kletternde Schuppen. Der Fels ist hier nicht immer fest, aber trotzdem toll zu klettern. Das Wetter hält und somit kommt auch kein Stress auf. Wir konzentrieren uns voll auf unsere Kletterei. Mit Schlingen, Camalots und Keilen lassen sich alle Seillängen bestens absichern. So entsteht in uns das sichere Gefühl, zu jeder Zeit die gesamte Unternehmung voll unter Kontrolle zu haben. Hinzu kommt natürlich noch der glückliche Umstand, sich voll auf seinen Seilpartner verlassen zu können.

Auf die Angst, an einer Stelle mal nicht weiter zu kommen, folgt unmittelbar am nächsten Stand der Adrenalinrausch, der in mir ein unbeschreibliches Glück aufkommen lässt. Ein fantastisches Gefühl, wenn auch nur für einen kurzen Moment! Es ist immer wieder schön, wenn man vorher nicht weiß, ob man durchkommt, dann am Ende aber doch den Weg bis nach oben schafft.

Das Klettern in Routen, die selbst abzusichern sind, ist ein tolles und spannendes Abenteuer – der Lohn ist ein großes und tiefes Erlebnis. Denn Wege zu gehen, die noch gänzlich unbelassen sind, hat auch heute noch den Charme des Erstbegehers. Und nur so ist es möglich, echte Abenteuer zu erleben. Ein Erlebnis, das man freilich nicht hat, wenn man sich in eingebohrte und bestens abgesicherte Routen begibt. Denn dort wird einem vieles abgenommen: etwa die Wegfindung, wenn man schon von Bohrhaken zu Bohrhaken schauen kann. Demgegenüber steht das Klettern in einer cleanen Route, in der man erst einmal ein Gespür für die logische Linie entwickeln muss. Die Verantwortung für das eigene Tun liegt hier bei jedem selbst und man muss eigenständig entscheiden, ob es weiter geht oder man besser den Rückzug antritt – dann aber möglichst, ohne Spuren zu hinterlassen. Hinzu kommt die Entscheidung, wie und an welcher Stelle man Sicherungsmittel anbringt. Ganz anders ist die Situation in einer eingebohrten Route, wo der Verlauf schon durch die Absicherung vorgegeben ist und man die einzelnen Bohrhaken nur noch klinken muss.

Es ist toll, dass es noch solche unbelassenen Routen gibt. Denn die Bedürfnisse jedes Einzelnen, wie eine Route eingerichtet oder abzusichern ist, sind verschieden und bestimmen entscheidend das Erlebnis. Leider kommen heute viele Komponenten, die das alpine Klettern ausmachen, in weiten Teilen der Alpen durch die plaisiermäßige Absicherung mit Bohrhaken zu kurz. Und somit kommt auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche und der mentalen Stärke, welche in Sportkletterrouten nicht in diesem Maße von entscheidender Bedeutung sind wie beim Klettern in alpinen Routen, zu kurz. Natürlich lassen sich manche Routen nur mit Bohrhaken absichern – kompakte Platten- oder Wandzonen etwa, die das Selbstabsichern nicht zulassen. Aber es gibt natürlich auch viele Routen, die geradezu ideal sind, um sie mit Klemmkeilen, Camalots oder Zackenschlingen selbst abzusichern – denn dies ist ein tolles Handwerk. Hier wartet das Abenteuer für den engagierten Kletterer.

In diesem Sinne – keep wild!

Eckdaten

Erstmal die Lage checken:

Begehung:

15. August 2009, zusammen mit Bärbel Wullenweber

Erstbegehung:

15. August 1981 durch A. Bossi und I. Regazzoni

Ausgangsort:

Von Airolo – am südlichen Ende des Gotthard Tunnels – nach Westen ins Val Bedretto Richtung Nufenenpass, kurz unterhalb der Passhöhe parken und zu Fuß in einer Stunde nach Norden durch das wunderschön gelegene Valle della Prosa zum Wandfuß.

Bester Zeitpunkt:

Juli bis September ist wegen dem schneefreien Zustieg/Abstieg am günstigsten.

Schwierigkeit:

Französisch 5c+ (5c+ obl.)

Länge:

10 Seillängen, 300 m

Absicherung:

Die Route ist bis auf wenige alte geschlagene Normalhaken clean, die Absicherbarkeit ist meist gut, die Stände sind teilweise mit Bohrhaken eingerichtet.

Ausrüstung:

50 m Doppelseil, 1 Satz Klemmkeile, C4-Camalots 0.1–3, Schlingen

» Hütten im Tessin (www.capanneti.ch)

» Piora-Alpkäse (www.zalp.ch …)

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